Wie ein Pastorensohn einen Ex-Fürsten bestiehlt Rutger Bregman: Ein Realismus, der Entscheidendes verfehlt

Politik

Viel Aufsehen erregte der junge Journalist Rutger Bregman der vom Guardian als „niederländisches Wunderkind für neue Ideen“ bezeichnet wurde, wie seiner Homepage nach zu entnehmen ist.

Rutger Bregman, Mai 2014.
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Rutger Bregman, Mai 2014. Foto: Bond van Nederlandse Architecten (CC BY 2.0 cropped)

9. November 2020
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Da der menschliche Verstand begrenzt ist, wundern wir uns immer wieder. Vielleicht könnte die Fähigkeit, sich zu wundern, tatsächlich auch als eine genuin menschliche Eigenschaft bezeichnet werden. Menschen die älter werden, nehmen Dinge oft als gegeben hin. Immerhin müssen sie sich orientieren in der Welt und Neuem zu begegnen ist zweifellos bei all seinem Reiz auch anstrengend. Wer sich hingegen die Fähigkeit sich wundern zu können bewahrt und weiterentwickelt, wird auch weiterhin Fragen stellen und seine Lebensbedingungen nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern von ihrer Veränderbarkeit ausgehen.

Wenn es den Feuilletonist*innen der Zeitungsbranche ein Rätsel zu sein scheint, woher Bregmans wunderliche Ideen stammen, so jedoch vor allem deswegen, weil ihr Horizont offenbar beschränkt ist. Wie ich an anderer Stelle bereits in Kürze gezeigt habe[1] lässt sich meines Erachtens nach relativ plausibel nachweisen, dass Bregman seine Konzepte im Grunde genommen von Peter Kropotkin, einem der bekanntesten Denker*innen des anarchistischen Kommunismus stammen.

Das Buch Utopien für Realisten (2017) entspricht dieser Lesart nach von seiner Intension her ziemlich direkt Kropotkins Die Eroberung des Brotes (Erstausgabe 1892), wie Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (2020) dessen Gegenseitige Hilfe in Tier- und Menschenwelt (1902) nachgeahmt ist.

Nun ist es keine Schande, populäre Bücher zu schreiben, um sie verkaufen zu können. Filme, Theaterstücke oder Musikalben werden immerhin oftmals auch nicht lediglich aus reiner Schaffensfreude produziert. Äusserst problematisch ist es hingegen, wenn die Stichwortgeber für die eigenen Ideen nicht genannt werden, was entweder auf eine gravierende Unkenntnis an entscheidender Stelle oder auf ein absichtliches Verschweigen hindeutet.

Doch zunächst zu den augenfälligen Analogien. In seinem Bestseller und Debüt-Werk von 2017 tritt Bregman für das bedingungslose Grundeinkommen, die 15-Stunden-Woche und offene Grenzen ein. Offensichtlich hat er damit den Nerv von nach Orientierung suchenden Linksliberalen getroffen, welche Utopie-los durch den Kosmos des 21. Jahrhunderts irren.

Der Beginn des Buches mag überraschen, denn Bregman beginnt mit einer Aufzählung der unglaublichen gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten ein-zwei Jahrhunderte. Ob die Verringerung von Kindersterblichkeit, von weltweiter Armut, der Erleichterung des alltäglichen Lebens durch Haushaltsmaschinen, den ungeheuren Möglichkeiten moderner Produktionsweisen und Kommunikationsmitteln – enorm viel hat sich verändert und „verbessert“ möchte man meinen.

Das all diese Errungenschaften jedoch einerseits durch auf systematischer Ausbeutung von Lohnarbeit, Umweltzerstörung und internationaler Ausbeutung beruhen, während der europäischen Industrialisierung massives soziales Elend hervorbrachten und dies auch heute noch weltweit tun, dazu verliert Bregman an dieser Stelle kein Wort. Gleichwohl geht er genauso wie Kropotkin an sein Werk heran, wenn dieser einleitend formuliert: „Wir sind wahrhaftig reich, viel reicher, als wir annehmen: reich an dem, was wir bereits besitzen, noch reicher an Produktionsmöglichkeiten mit unserer vorhandenen (mechanischen) Ausrüstung und am allerreichsten an dem, was wir dank unseres Bodens, unserer Manufakturen, unserer Wissenschaft und unserer technischen Kenntnisse zustande bringen könnten, würden sie nur benutzt, um Wohlstand für alle zu schaffen“[2].

Wohlstand für alle ist erreichbar und „realistisch“, weil die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftlichen Bedingungen dafür vorhanden sind. Von diesem Fortschrittsoptimismus hat Bregman sich eine gehörige Scheibe abgeschnitten. Dabei geht es ihm um die Wiedergewinnung des utopischen Denkens. Allerdings in der Politik anstatt wie für Kropotkin für autonome soziale Bewegungen.

Bregman gibt sich dennoch den Anstrich des radical chic, wenn der demgemäss am Ende seines Buches schreib: „Ich meine eine Politik, in der es nicht um Regeln, sondern um Revolutionen geht – nicht um die Kunst des Möglichen, sondern um die Kunst, das Unmögliche unvermeidlich zu machen. […] Und diese Politik ist etwas ganz anderes als die, die sich auf das Mögliche beschränkt. Die eine Politik erhält des Status quo, die andere erschafft Neues“.[3] Diese Haltung hätten die „Underdog-Sozialisten“ verlernt – zumindest eine These, der ich bedingungslos zustimmen würde.

Von Kapitel zwei bis vier argumentiert Bregman für das bedingungslose Grundeinkommen, wozu er sich – wie auch sonst in seinen Texten durchgängig – auf zahlreiche wissenschaftliche Studien bezieht, mit welchen er überzeugen möchte. Die Argumente dafür sind bekannt: Menschen können durchaus selbst etwas mit ihrem Leben anfangen und arbeiten oftmals sogar produktiver, wenn ihnen einfach gegeben wird, was sie brauchen.

Mit der Produktivität und Effektivität des anarchistischen Kommunismus begründet auch Kropotkin seine Konzeption, um den landläufigen Vorurteilen entgegen zu wirken, welche seiner Perspektive entgegen geschmettert werden. Dies bedeutet zunächst ein Aufbrechen des Glaubenssatzes, Menschen könnten nur durch Lohnarbeit zufrieden werden, wie er leider allzu oft auch von vielen Sozialist*innen propagiert wurde.

Doch wo Bregman noch zaghaft auf ein Umdenken hofft, räumt Kropotkin mit dem Wahnsinn auf: „Schluss mit solche zweideutigen Formeln wie 'Recht auf Arbeit' oder 'Jedem das vollständige Produkt seiner Arbeit'. Wir proklamieren das Recht auf Wohlstand – den Wohlstand für alle!“[4] (S. 81).

Die Herangehensweise Bregmans ist also keineswegs eine neue, sondern eine wohl vertraute, wenn wir etwa lesen können: „Gleichzeitig entstehen unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue, auf dasselbe Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen gegründete Organisationen; denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus vermögen die gegenwärtigen Gesellschaften nicht zu leben. Trotz der durch die Warenproduktion evozierten beschränkten egoistischen Geistesverfassung offenbart sich die kommunistische Tendenz in jedem Moment und dringt in allen möglichen Gestalten in unsere Verhältnisse ein“ (S. 97)[5].

Im fünften Kapitel fordert Bregman „Neue Kennzahlen für eine neue Ära“, sprich, er kritisiert vor allem die Masseinheit des Bruttoinlandsproduktes (BIP), als völlig unzureichend, um den wirklich Wohlstand und die Zufriedenheit einer Bevölkerung zu bestimmen.

Hierbei handelt es sich nun wirklich nicht um eine neue Erkenntnis, wird dieses doch schon seit den 80er Jahren von all jenen Ökonomien kritisiert, die sich nicht der neoliberalen Doktrin gefügt haben. Doch auch dahinter lässt sich wiederum der anarchistisch-kommunistische Grundgedanke erkennen, dass erbrachte Leistungen in der Gesellschaft überhaupt nicht vergleichbar sind, da Reproduktionstätigkeiten, Sorgearbeiten, kreative und wissenschaftliche Arbeiten nicht bewertet werden können. Sie sollten auch gar nicht bewertet werden, da es auch die ökonomische Produktion letztendlich kein Selbstzweck ist (beziehungsweise nicht um des Profites willens sein sollte), sondern ihr Ziel in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also in einem ausser-ökonomischen Zweck, liegt.

Dann geht es um die erwähnte 15-Stunde-Woche, wobei Bregman sich teilweise auf ebenso kleinliche Rechenaufgaben bezieht, wie seinerzeit Kropotkin. Der kalkuliert, dass 30 Stunden Arbeitszeit pro Woche ausreichen müssten, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren – da er dabei von einem Allein-Ernährer-Modell ausgeht, landet man bei zwei Verdiener*innen in der Familie ergo wiederum bei 15 Stunden Wochenarbeitszeit.

Auch die Maschinisierung und die damit einhergehende Verknappung von notwendiger Arbeitszeit bespricht Bregman im achten Kapitel, wie auch Kropotkin in Hinblick auf die Produktion[6] als auch für die Erleichterung der Reproduktion, insbesondere bei der Haushaltsarbeit[7], wobei für ihn feststeht, dass Maschinen Gemeineigentum werden müssen, damit es auch die Produkte sind, die damit hergestellt werden[8].

Was schliesslich Bregmans Forderung nach offenen Grenzen angeht, widerlegt er im neunten Kapitel zurecht landläufige Vorurteile, welche gegen Einwanderung angebracht werden. Auch darin findet sich nichts Neues, wobei sich für Kropotkin 1892 die Frage tatsächlich anders stellte, da die nationalstaatlichen Grenzen erst im Verlauf des ersten Weltkrieges immer undurchdringlicher werden. Demnach war für ihn – im Unterschied etwa zu Vielen deutschen und französischen Sozialdemokrat*innen schlichtweg selbstverständlich, dass der Sozialismus nur transnational umgesetzt werden kann. In seinem Kapitel über freie Vereinbarungen betont er allerdings dezidiert die Vorteile transnationaler Kooperation nicht-staatlicher Akteure[9].

Anhand dieser Beispiele lässt sich also veranschaulichen, dass Bregman durchaus dem Modus nach Kropotkins Herangehensweise verfolgt. Die Kerngedanken sind dabei, erstens, dass die materiellen, psychischen und kulturellen Bedingungen vorhanden sind, um einen wirklichen sozialen Fortschritt möglich zu machen.

Zweitens geht es darum, dass kommunistische und anarchistische Tendenzen bereits in der vorfindlichen Gesellschaft vorhanden sind und immanent aus dieser heraus entwickelt werden könnten, was zugleich aber bedeutet, mit den herrschenden Verhältnissen zu brechen. Nun mag es einen guten Grund haben, dass Bregman seinen Ideengeber nicht einmal genannt hat: Ich vermute, er befürchtete, dass sich sein Buch nicht so gut verkaufen würde, wenn sich heraus stellte, dass wesentliche Gedanken darin bereits im anarchistischen Kommunismus entwickelt wurden und Bregman sie lediglich in einem linksliberalen Wohlfühlprogramm verpackt und verhunzt.

Abgesehen davon, dass die Namensnennung nach den Verkauf des Buches meiner Ansicht nicht gemindert hätte, gibt es jedoch auch zwei fundamentale Unterschiede zwischen beiden Denkern: Kropotkin geht von der Notwendigkeit der Enteignung aus, welche durch Akteure einer autonomen und ermächtigten Arbeiter*innenklasse durchgeführt werden müsse, während Bregman an den Eigentumsverhältnissen lediglich mit einer Tobinsteuer rütteln und Steuerparadiese austrocknen möchte. Dabei appelliert er letztendlich an den Staat verlässt den Rahmen staatlich eingehegter Politik jedoch keinen Zentimeter.

Dies ist der Punkt, an welchem Bregmans Adaption wirklich ärgerlich ist, weil sie Menschen Flausen in den Kopf setzt, welche sie oberflächlich und kurzzeitig begeistern können, die dann anschliessend jedoch rasch vergessen werden und zu Enttäuschungen führen müssen. Es hat eben strukturelle Gründe, warum die politische Klasse und die Besitzenden kein Interesse für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens, der 15-Stunden-Woche und für Einwanderungspolitik sehen. Da kann Bregman argumentieren, dass dies – selbst aus kapitalistischer Sicht - vernünftig wäre, wie er will.

Auch Kropotkin betrieb im Wesentlichen Bildung und Propaganda und trug auch etwas zur Organisierung bei. Dies spielt sich dennoch auf einer anderen Ebene ab, als Bregmans Aktivitäten, der meint, dass bereits „Ideen die Welt verändern“, wie er im zehnten Kapitel schreibt. Denn für den Anarcho-Kommunisten ist klar, dass es zwar überzeugende Konzepte, jedoch vor allem Organisation und Klassenkämpfe bedarf, um dem sozialen Fortschritt mit einer sozialen Revolution die Tür aufzustossen.

Für den Linksliberalen hingegen, welcher Inspirationsquellen sucht, um einer erlahmten Technokratie und einem schwächelnden Neoliberalismus einige innovative Vorschläge entgegenzusetzen, löst sich jede Auseinandersetzung in der Behauptung einer im Grunde guten Menschheit auf, die nur neu begeistert werden müsste. Wie bereits erwähnt, bedient er sich in seinem folgenden Buch in gleicher Manier an den Grundgedanken von Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt.

In einem ist Bregman wahrlich ein Meister: Darin, gute Ideen zu klauen und als völlig neue Innovation auszugeben. Doch zwischen beiden Positionen handelt es sich nicht lediglich um einen graduellen Unterschied, in dem Sinne, dass die tauschwertfreien anarchistischen Kommunist*innen radikal bis fundamentalistisch die progressiven Ideen vertreten würden, während Eigentums-bezogene Linksliberale in der Lage wären, sie in weitere Bevölkerungskreise zu tragen und anschlussfähig zu machen. Vielmehr besteht eine grundlegende Differenz darin, wie Kapitalismus, Staat und Grenzen wahrgenommen und dementsprechend ihre Überwindung gedacht werden.

Während Bregman sich hierbei eine neue Vision für linke Politik herbei wünscht, weiss Kropotkin, dass Politik als Herrschaftsverhältnis überwunden werden muss um „Utopien für Realisten“ einzuführen: „Es wird völlig unmöglich sein, die Enteignung durchzuführen, wenn die Gesellschaft nach dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation organisiert ist. Eine auf Leibeigenschaft beruhende Gesellschaft stimmte mit der Monarchie nicht überein; eine auf dem Lohnsystem und auf Ausbeutung durch die Kapitalisten basierende Gesellschaft findet den ihr gemässen politischen Ausdruck im Parlamentarismus. Doch eine das gemeinsame Erbe wieder antretende freie Gesellschaft muss sich in harmonischer Übereinstimmung mit der neuen ökonomischen Geschichtsphase eine neue Organisation freier Gruppen und freier Gruppenföderationen suchen. Jeder ökonomischen Phase entspricht eine politische Phase und es würde nicht möglich sein, das Privateigentum anzutasten, fände man nicht zugleich einen neuen Modus für das politische Leben“[10](S. 106).

Um diesen neuen Modus für das politische Leben zu finden, gibt es Ansatzpunkte mit den Stichworten „Autonomie, „Dezentralität“, „Föderalismus“, „Horizontalität“ und „Freiwilligkeit“. Da Bregman sich so realistisch jedoch nicht mit der Utopie auseinandersetzen möchte, empfehle ich eher Kropotkin zu lesen. Zweifellos bleibt es jedoch eine Herausforderung eine populäre und visionäre Strömung im anarchistisch-kommunistischen Geist zu begründen. Dabei sind diese Tendenzen in den verschiedenen sozialen Bewegungen durchaus vorhanden. Ganz ohne Optimismus und Zukunftsorientierung lassen sie sich jedoch nicht aufspüren, vertiefen und ausweiten.

Jonathan Eibisch

Fussnoten:

[1] https://kritisch-lesen.de/rezension/sozialismus-fur-mensch-und-tier

[2] Kropotkin, Peter, Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, München 1973, S. 71.

[3] Bregman, Rutger, Utopien für Realisten, Hamburg 2017, S. 249.

[4] Kropotkin 1973, S. 81.

[5] Ebd., S. 97.

[6] Ebd., S. 166ff..

[7] Ebd., S. 191ff.

[8] Ebd., S. 80.

[9] Ebd., S. 196-211.

[10] Ebd. S. 106.